Ein paar Gedanken zur Frage des Sinns und Unsinns der Chronologie:
Erst einmal: Jeder hat das Recht, eine wie auch immer geartete Chronologie der Bond-Filme herzustellen, und rein inhaltlich kann man die Craigs grundsätzlich problemlos vor DN ansiedeln, aber natürlich bleibt diese Eigen-Chronologie nur „gefühlt“ und hält keiner auch noch so oberflächlichen sachlichen Prüfung stand, wie die schon angesprochene Ansiedlung der Craigs in der Gegenwart sofort vor Augen führt.
Tatsächlich funktioniert ja nicht einmal die Chronologie der Filme nach ihrem Entstehungsdatum, siehe das ebenfalls genannte doppelte Kennenlernen Bond-Blofeld in YOLT/OHMSS, den Anschluss OHMSS/DAF und natürlich spätestens ab Dalton schlicht die Zeit, die seit DN vergangen ist, und die seitdem unerklärte und nicht thematisierte regelmäßige Verjüngung der Figur. Connery, Lazenby und Moore konnte man noch als ein und dieselbe Person ansehen – bei allen Unterschieden in der Darstellung und trotz der Alleinstellung eigentlich jedes Filmes jenseits einiger grober Verbindungslinien (zunächst natürlich Bonds Jagd auf Spectre), vereinzelter Anspielungen und dem sichtbaren Altern des jeweiligen Darstellers.
Trotzdem funktioniert die Bond-Reihe nicht nur als Abfolge von Einzelfilmen, sondern auch als Ganzes, ob als lineare Zeitreise von 1962 bis heute und darüber hinaus, aber auch ganz nach Lust und Laune - eben nach "Gefühl".
Es stellt sich also etwa seit TLD die Frage, wie wir den Agenten in z. B. TLD oder DAD – beides ihrerseits Jubiläumsfilme mit reichlich Anspielungen – „gefühlt“ als die gleiche Figur verstehen wie etwa in DN oder TMWTGG, wieso der Bond in TB und der Bond und in SF doch irgendwie ein und derselbe ist, so sehr beide Inkarnationen sich unterscheiden und so viele Jahre auch zwischen ihnen liegen – und weshalb wir den Werdegang des jungen Agenten in CR und QOS als die ersten Stationen desselben Agenten sehen können, den wir schon Jahrzehnte vorher als etablierte Größe des MI6 erlebt haben.
Die Antwort drauf liegt wohl an den Eckpunkten, die die Filmfigur James Bond ausmachen – in den bekannten Merkmalen wie in ihren Leerstellen, ist doch die Biographie des Film-Bond wesentlich vager als die des Roman-Bond. So lassen sich auch die stark variierenden Interpretationen des jeweiligen Darstellers „gefühlsmäßig“ problemlos vereinigen, und so kommt es andererseits auch, dass Gelegenheits-Gucker zu dem Schluss kommen: „James Bond? Immer der gleiche Schmus.“ Und nicht zufällig, sondern programmatisch begrüßt Moneypenny den ersten Neu-Bond George Lazenby genau mit diesem Satz! – „Seht her, er ist neu – und doch ganz der alte James, den Ihr kennt!“
Was macht Bond also – neben seinem Elan, seinem Womanizertum, seinen Manieren, seiner Coolness, Arroganz und Schlitzohrigkeit – zu Bond? Nicht zuletzt sein Einzelgängertum = seine Bindungslosigkeit = seine Unabhängigkeit. Jenseits seiner unbedingten Loyalität zum MI6 (schon im ersten Film möchte Dr. No ihn eigentlich anwerben) hat Bond keine Familie, keine feste Partnerin (Sylvia verschwand als Nebenfigur (= die dauergehörnte Geliebte) nach zwei Filmen, ihre Funktion hätte sich sonst zu sehr mit Moneypenny überschnitten) und pflegt außer mit Leiter keine dauerhaften Freundschaften – und auch diese Freundschaft wurde nie wirklich konsequent ausgestaltet, siehe schon die dauernden Umbesetzungen und den mal vertrauten, dann wieder eher kollegialen Umgang der beiden. Bonds einzige konstante Bezugspersonen entstammen seinem beruflichen Umfeld, ersetzen ihm die Familie – was spätestens bei Craig (insbesondere in SF) offen thematisiert wird, aber schon bei Fleming in Bonds Liebe zur schroffen Vaterfigur M anzutreffen ist.
Mit fortschreitender Dauer des Franchise setzte sich diese Ungebundenheit Bonds fort – mit dem Erfolg Moores löste sich Bond von Connerys Gesicht, mit dem institutionalisierten Darstellerwechseln seither sogar von Zeit und Alter. Der Ur-Bond Connery-Lazenby-Moore ging mit NSNA ausdrücklich und mit AVTAK endgültig in Rente; aber das war nicht das Ende des geschüttelten Martini-Trinkers.
Bei Connery wird die private Bindungsverweigerung Bonds nicht erklärt – einerseits war dies in der Kriegs- und ersten Nachkriegsgeneration vielleicht nicht nötig, andererseits entsprach es auch nicht damaligen Sehgewohnheiten im Genrekino und hätte die Lockerheit der Filme zu sehr belastet; bei Fleming kann man dieses Einzelgängertum leicht mit Bonds Waisenkindheit erklären – das griffen GE und seit SF auch die Craigs dann verspätet explizit auf.
Bonds Wesen ist bei aller Siegertypmentalität geprägt vom Verlust. Das intensiviert sich beim Film-Bond in OHMSS mit seiner Heirat und Tracys Tod. Trotz der damaligen Ablehnung des Films tritt hierhin ein wesentliches Charakteristikum Bonds erstmals offen und in seiner düsteren Ausprägung zutage – und das scheint auch der Grund zu sein, warum die explizitesten Vorgängeranspielungen in der Ära Moore ausgerechnet auf den lange geschmähten OHMSS und Tracys Tod bezugnehmen: ausgerechnet in Moores wohl wichtigsten Filmen: a) in TSWLM, der das Franchise vor dem kommerziellen Abwärtstrend rettete und zur alten (Über-)Größe zurückführte, b) in FYEO, der die Reihe nach dem abgehobenen MR erdete und so den Weg bereitete nicht nur für die kurze Dalton-Ära, sondern letztlich auch für Craig. Nachdem sich Moore in seinen ersten beiden Filmen darstellerisch durchaus noch erkennbar an Connery orientierte, wird 007 in seinen beiden innovativsten Bond-Filmen mit dem Verlust konfrontiert, der ihn auch zu dem macht, der er ist: der Lebemann – dieser Hedonismus als Kompensation wird gerade bei Brosnan explizit thematisiert: GE, TWINE – und loyale Einzelgänger.
So ist es sinnvoll, dass Bond in LTK an seine gewesene Frau erinnert wird und sofort „dichtmacht“, dann aber beim Angriff auf einen Mann, der sich seine Loyalität erworben hat, rot sieht, wie er später, in Craigs Gestalt, auch für M alles wagen wird. Und so ist es ebenfalls nur konsequent, dass wir bei Brosnans Debüt erstmals im Film vom frühen Tod seiner Eltern hören (dafür kommt bei Brosnan der Verlust der großen Liebe etwas kurz, ein blasser Abglanz davon findet sich bei Paris in TND). Bei Craig begegnen wir all dem wieder, mit solcher Wucht wie nie, was angesichts der „psychologischen“ Ausrichtung des Reboots und des Wandels der Bond-Figur von der Type zum Charakter nur konsequent ist. Craig-Bond verliert seine große Liebe gleich im ersten Film – und diese Liebe muss eben nicht Tracy heißen, so wie auch der Dalton-Bond nicht 1969 vor den Traualtar getreten ist: Wichtig ist der Verlust an sich, nicht die genauen Umstände! (Ähnliches gilt übrigens auch für Leiter: Wichtig ist nicht die genaue Gestalt dieser Freundschaft, sondern DASS es sie gibt.) Ab dem dritten Craig-Film bekommen wir dann auch noch den biographischen Hintergrund, die Kindheitsgeschichte (diese Reihenfolge spiegelt wiederum diejenige des Dalton/Brosnan-Bond, der ja gerne als eine Einheit betrachtet wird – wie der Bond der drei Vorgänger). Gleichzeitig rückt der personell erweiterte Familienausgleich MI6 immer stärker in den Vordergrund.
So unterschiedlich Bonds Auslegung durch seine Darsteller (auch mitunter durch ein und denselben Darsteller) auch war, ist und bleiben wird, gibt es doch auch jenseits äußerlicher Formeln genug, was die Figur immer wiedererkennbar macht. Deshalb rückt die Chronologie über inhaltliche und zeitliche Brüche hinweg ins Belieben des Einzelnen, ist jeder Film mit jedem verbunden, sodass man z. B. den alternden Moore in AVTAK anfeuern kann, dann seinen Jungspund-Nach-Nach-Nachfolger in CR und direkt im Anschluss den coolsten Mann der Swinging Sixties in GF – und doch immer denselben vor sich hat: „Sein Name ist Bond, James Bond.“