So, die Rezension zu Naked habe ich zur gestrigen Abendstund' noch rasch verfasst, nun folgt nach den Plätzen 4 bis 2 also endlich das Endwerk, nämlich Platz 1!
Viel Vergnügen
Lieblingsfilme: Platz 1 - Mike Leigh's Sozialdrama Naked - nackter Nihilismus eines missverstandenen Idealisten und Philosophen!
Im Jahre 1992, so geschah es, haben sich verschiedene Ausnahmetalente zusammengefunden, um den komplexesten, vielschichtigsten und intensivsten Film der Kinogeschichte zu erschaffen, der mit David Thewlis als Johnny die stärkste schauspielerische Leistung aller auch nur erdenklichen Zeiten hervorruft, DAS übertrifft selbst Vanessa Paradis in "Elisa"! Johnny ist der personifizierte Wissensspeicher ohne Leben.
Der im Mai 1993 bei den Filmfestspielen in Cannes erstmals präsentierte und vollkommen berechtigt mehrfach ausgezeichnete Ausnahme-Film beginnt bereits verstörend, möchte zwischen Zuschauer und Protagonist zunächst das maximale Maß an Abstand herbeiführen, damit es später ein umso lobenswerteres Kunststück ist, dass es dennoch gelingt eine Annäherung zwischen Johnny und seinen Zuschauern zu erzielen. Bereits im Vorspann werden wir an die grandiose und nervlich sehr schwer auszuhaltende, sich immer wiederholende musikalische Untermalung und in einer Endlosschleife ablaufende Melodie herangeführt, sie kann als Metapher verstanden werden, steht sinnbildlich für die sich ebenfalls täglich stets wiederholenden Dinge, die Johnny sagt, tut, spürt, weiß und vorträgt, welche ihn aber aller Bemühung zum Trotze dennoch nicht ein einziges Mal zum Ziele führen. Nach dem verstörenden Filmbeginn ist eine Flucht vonnöten, was wir sahen ist ein Grenzakt, es ist weder eine Vergewaltigung, noch ist es ein gänzlich einvernehmliches Erlebnis, es ist eine Erfahrung zweier Menschen, die im Laufe ihrer selbst ihren Grundton verändert und nur noch von ihm als fortsetzensakzeptabel empfunden wird, Wut entsteht bereits hier - sie bildet sich auf allen Seiten. Nur 3-4 Tage nimmt der Film insgesamt ein, dabei ist er aufgebaut wie ein einziger Monolog von David Thewlis, andere Menschen haben in ihrem gesamten Leben weniger gesprochen. Johnny ist - so idiotisch dies auch klingen mag - zu klug um zu leben, zu nachdenklich um aktiv sein zu können, zu tiefgründig um eine Beziehung zu führen, zu weise um sich weise zu verhalten. Wer gesteht sich mit seinem Verhalten zu identifizieren, muss nicht zwangsläufig ein Unmensch sein, gleichwohl: szenenweise wird Johnny sehr beängstigend porträtiert, zu lernen ihn zu verstehen, ist die Kernaufgabe eines jeden Zuschauers, kein Psychologe dieser Welt wäre seinen Ausführungen gewachsen. Nach der ergriffenen Flucht befindet er sich in einem menschenleer morbiden Teil von London, eine trostlose Ankunft ist die Folge einer trostlosen Reise, "take me back to Manchester" heißt es erst deutlich später, allerdings in gesungener Form der gefühlt letzten Atemzüge zweier Protagonisten. Sophie, eine drogenabhängige junge Frau, die aber herzensgut ist, lässt sich sofort von Johnny faszinieren, versucht verzweifelt mit seinen Ausführungen mithalten zu können, die Reaktion darauf: "Eines würde ich gern wissen wollen: Bist du dir eigentlich über die Wirkung bewusst, die du auf das durchschnittliche, männliche, aus Manchester stammende, xy-chromosomierte, gierige, sabbernde, zu den Säugetieren gehörende Mitglied dieser Gattung hast?" "Äh, ja." "Dacht' ich's mir."
Aber auch ein "Have you ever thought, right, I mean you don't know, but you might already have had the happiest moment of your whole (F-Wort) life and all you have to look forward to is sickness and purgatary?", bekommt sie beispielsweise von ihm zu hören. Allgemein redet er sehr viel vom Kosmos, vom Universum, von der Menschheit. Und eben einen solchen, einen eigenständigen Kosmos, bildet er gewissermaßen selbst, niemand darf in selbigen eindringen, niemand versteht ihn, nur Johnny definiert ihn. Johnny ist der an Wissen reiche und an Liebe und Geldern arme Kontrast zu dem gut betuchten, jedoch widerwärtigen Yuppie Jeremy G. Smart alias Sebastian Hawks, der im Rahmen des Films eine noch gewalttätigere Figur verkörpert. Man könnte ihn als eine reiche und weniger philosophische, dafür noch überzeichnetere Version von Johnny wahrnehmen, doch ich persönlich warne davor diese beiden Personen miteinander zu vergleichen, so sehr man auch szenenweise dazu neigen mag. Louise, eine weitere tragende Figur, ist Johnny's ehemalige Begleiterin und Lebensgefährtin, sie tut sich überaus schwer mit des Redemeisters Rückkehr, wärmere Momente folgen erst später und auch diese werden von Tod, innerer Zerrissenheit und Hoffnungslosigkeit begleitet. Wer behauptet, der Film richte sich gegen Frauen, hat alles gesehen, nur nicht den Film selbst. Johnny's Sarkasmus ist gewissermaßen sein letzter Selbstschutz vor dem endgültigen Betreten der Klippe des Abgrundes. Eine Antwort kommt von ihm grundsätzlich in unerreichter Schnelligkeit und mutet nicht selten sehr "ursprünglich" an, auf Louise's "Wie bist du hergekommen" antwortet er mit einem extrem langen Monolog bezüglich der Theorie des Urknalls, ein Monolog wie ich ihm in schriftlicher Form nicht gerecht werden könnte, man muss ihn höchstpersönlich aus dem Munde Thewlis' hören, nur so entfaltet er seine Wirkung. Die Oliver-Stritzel-Synchronisation ist hervorragend, das Dialogbuch dagegen weniger, teils eloquente Zeilen des Originals sind leicht fehlerhaft eingedeutscht worden. Mit giftiger und dennoch nicht boshafter Direktheit geht Johnny (wissend was folgt) auf das Schicksal des Umfeldes ein, fragt Louise nach ihrer Arbeit und ob es war wie sie es sich vorgestellt habe, sie antwortet mit Ja, wird aber anschließend von Johnny dazu aufgerufen diese Begeisterung beispielhaft zu erläutern, es folgt vollkommene Stille der Ahnungslosigkeit, denn die Menschheit weiß nicht was sie zu erleben gewillt ist. Seinen tief sitzenden Schmerz kompensiert er mit dem vielleicht schwärzesten Humor der Filmgeschichte, Beispiel gefällig? Mit Vergnügen!
"Wie geht es deiner Mutter, säuft die immer noch wie ein Loch?", wird er gefragt. Was er wohl entgegnet? "Sie ist tot, aber sie (...F-Wort...) immer noch gut, ich meine, ihre Preise sind reinste Halsabschneiderei, aber ich als ihr Sohn kriege Rabatt!"
Er kann nicht anders als empathisch sein, sonst wüsste er mitnichten so genau, wie er es fertigbringt sein Gegenüber derart treffsicher zu kränken, so etwa die Besichtigung von Louise's Zimmer: "Ist ja bezaubernd, wie ich sehe hast du unten 'nen Fußboden, oben eine Decke und eine Wand auf jeder Seite, aber nur ein Einzelbett, traurig eigentlich."
Sein Zitieren anspruchsvoller Literatur und obendrein oftmals der Bibel, ist allgegenwärtig. Wohlwissend dass sein Gegenüber meist nicht weiß wovon er spricht, versprüht er hemmungslos das einzige was ihm bleibt: Wissen. Die inzwischen demoralisierte Sophie verachtet er nicht, nur kam sie ihm zu nahe, im Inneren will er sie vor ihm selbst schützen, einem "normalen" Wesen keinen Partner wie ihn antun, was er nun benötigt ist Zeit. Der widerwärtig grinsende und um Welten weniger zu tolerierende Jeremy gesteht im Beisein einer Dame seinen Suizidwillen, infolgedessen bringt er die Lady aber wieder zum Schweigen, lediglich im Bezug auf die inneren Dämonen kann er Johnny das Wasser reichen, erfährt ähnlich viel Leid, nur eben nicht auf materieller Ebene. Er demütigt Frauen, um sich seiner eigenen - sonst zu entstehen drohenden - Demütigung feige zu entziehen, sich ihrer zu entledigen. Er ist phänomenal gespielt worden von Greg Cruttwell, er spielt diesen Charakter mit einer derart hintergründigen Brillanz, dass man keinen tieferen Wunsch verspürt als Jeremy zu beseitigen, Respekt, chapeau! Das Haus von Louise, in welchem sich ein großer Teil der frühen Handlung abspielt, verdient einen Preis als das trübseligste Apartment der Filmgeschichte, hier könnte sich selbst die Wohnung von Roman Polanski im 'Mieter' eine Scheibe abschneiden. Nach wie vor kennen Johnny's Zitate keine natürlichen Grenzen der Genialität, so wird er gefragt ob er aus Manchester kam weil er sich gelangweilt habe, seine Antwort:
"Was I bored? No, I wasn't bored. I'm never bored, that's the trouble with everybody - you're all so bored. You have nature explained to you and you're bored with it, you have the living body explained to you and you're bored with it, you have the universe explained to you and you're bored with it, so now you just want cheap thrills and like plenty of them, and it does not matter how tawdry or vacuous they are, as long as it's new, as long as it's new, as long as it flashes and bleeps in 40 different colors. So whatever else you can say about me, I'm not bored!"
Und niemand ist so wissbegierig wie er, er stellt den Menschen - zwischen seinen eigenen Monologen - mehr Fragen als ein Kleinkind seinen Eltern oder gar einem Fremden. Er öffnet sich Sophie, bedauert es kein Arzt zu sein, obwohl er insbesondere auf psychologischer Ebene ein wahres Genie ist. Zwar nimmt sie ihn ernst, doch sie schwebt im siebenten Himmel und hat kein Ohr für ernste Töne. Auf Johnny's Streifzug, nächtens im verlassenen Teil von London, begegnet er personifizierten Existenzlosigkeiten, so etwa dem hilflosen und nicht lesen könnenden Archie, dessen Johnny auf 40 statt 27 Jahre schätzenden Freundin Maggie, einer alternden Tänzerin sowie einem ihn vorübergehend aufnehmenden Security Guard, der mit Johnny das philosophischste Gespräch der Menschheitsgeschichte führt, diese Unterhaltung bezeichne ich in nicht verklemmter Freiheit als den Orgasmus der Erkenntnisse. Eine sich aufbauende Romanze hätte das Fräulein aus dem Café sein können, doch anstelle normaler Fragen eines ersten Dates, bekommt sie von Johnny zu hören:
"Willst du beerdigt oder verbrannt werden?"
Johnny beißt, Johnny schreit, Johnny versagt, doch es ist schwer nicht auch die guten Seiten in ihm zu sehen, er ist der Inbegriff eines Opfers schlechter Bildungssysteme und eines Wesens des ungerechten Post-Thatcher-Englands. Mike Leigh hatte immer ein Herz für die Arbeiterklasse, für die oftmals vergessenen Gestalten im Strudel verloren gegangener Fairness.
Auch wenn es mir noch so sehr unter den Nägeln brennt, da einzelne Szenen teilweise vollkommen unkommentiert geblieben sind und es Zitate gäbe, über welche ganze Bücher zu schreiben wären, so pausiere ich an dieser Stelle dennoch, denn ich bin so frei die kühne Behauptung aufzustellen, dass es schlicht und ergreifend unmöglich ist, ein Werk wie Naked zu rezensieren. Nach wenigen warmen Momenten der Erinnerung, folgt am Ende des Tages ein Filmfinale, welches verstörender nicht sein könnte, welches erneut eine ungewisse Zukunft hervorruft und welches noch übertroffen wird von der vielleicht trostlosesten Abspannmusik der Filmgeschichte. Ich gratuliere Ihnen:
Wenn Sie hier angekommen sind, haben Sie den Film Naked überlebt - und doch verlangt er der diversen Details wegen danach ausgesprochen oft angesehen zu werden, es ist ein wichtiger Film, dessen Botschaften auf interpretatorischer Ebene ein Fest des Denkens hervorrufen.
Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von »Daniel Schweikert 1996« (23. September 2016, 18:24)